Mit Zickzackkurs zum „Brexit“?

Durch den klaren Erfolg David Camerons bei den Unterhauswahlen steht es fest. Spätestens 2017 werden die Briten über den Austritt aus der EU entscheiden. Erleben wir nun also das letzte Kapitel einer vier Jahrzehnte dauernden krisenhaften Partnerschaft, oder geht das Vereinigte Königreich nur seinen Zickzackkurs weiter, um sich innerhalb der Gemeinschaft neuerlich mehr Spielraum zu verschaffen?

Am 9. Mai 1950 gab der damalige französische Außenminister mit der „Schuman-Erklärung“ den Anstoß für einen Prozess, der bis ins 21. Jahrhundert die europäischen Völker wirtschaftlich und politisch immer stärker verband und damit Frieden und Wohlstand brachte. Vormals sechs, sind es heute 28 Staaten, die sich dem Erfolgsmodell einer „ever closer union“ anschlossen und einen Großteil ihrer Politiken unter ein gemeinsames europäisches Dach überführten.

Einst so stabil und fortschrittlich, scheint es so, als hätten die vielen Gewitter in den letzten Jahren so viel Schaden angerichtet, dass sich so mancher Mitbewohner der „WG-Europa“ mittlerweile nach neuem Wohnraum umsieht.

Eine schwierige Wohngemeinschaft

Griechenland beispielsweise kann seit April 2010 seine Miete nicht mehr bezahlen und lebt seither auf Kosten aller anderen. Zwar hat es unzählige Male beteuert, sein Zimmer umgehend und in allen Ecken aufzuräumen, doch ist das Gerümpel faktisch nicht mehr zu überblicken. Einfach rausschmeißen darf man es nicht, da der Mietvertrag unbefristet ist – der zunehmende Unmut der Nachbarn könnte aber durchaus dazu führen, dass man es irgendwann einfach seinem Schicksal überlässt.

Neben Griechenland sorgt auch ein weiterer Bewohner für schlechte Stimmung. Ein Rückblick: Weil die WG der sechs Erstbezieher Deutschland, Frankreich, Italien und der Benelux-Staaten seit 1952 so hervorragend funktionierte und man in der gemeinsamen Küche plötzlich nicht mehr nur wässrige Süppchen, sondern immer kompliziertere Gerichte gemeinsam fabrizierte, war der Andrang von außen plötzlich groß. Man nehme Großbritannien: Seine Freunde auf beinahe allen Erdteilen hatten sich von ihm losgesagt und als einsame Insel irgendwo im nordöstlichen Atlantik fühlte es sich sichtlich unwohl. Das Problem war nur, dass die Sechs um ihre Gruppendynamik fürchteten, und daher eine Anfrage 1963 noch ablehnten. Erst zehn Jahre später war die Zeit für vorerst drei Anwärter (GB, Irland, Dänemark) reif.

Tatsächlich lässt sich die folgende Phase gemäß dem Sprichwort mit den vielen Köchen und dem Brei umschreiben: Streit, Stillstand, (Euro-) Sklerose. Schuld daran waren irgendwie alle ein bisschen, Lady Maggie Thatcher war aber sicherlich diejenige, die am wenigsten auf die Anliegen der anderen einging. Blockierte sie anfangs nur manche Kompromisse in den Hausversammlungen, trat sie 1984 unmissverständlich mit folgenden Worten vor ihre Kollegen: „We want our money back“. Nicht nur, dass ein eigener Britenrabatt eingefordert wurde und nach wie vor so gewährt wird, verweigerte GB in den Folgejahren auch die Partizipation an einigen der wichtigsten gemeinsamen Hausregeln.

Ohne uns

Wo bei den anderen die Türen seit 1995 immer offen standen, sind etwa auf den beiden Inseln GB und Irland bis heute Ausweis- und Personenkontrollen gang und gäbe. Auch der Einführung eines gemeinsamen Zahlungsmittels zwischen den Bewohnern wurde seitens der Briten protokollarisch ein Riegel vorgeschoben. Ganz im Sinne von: „Macht was ihr wollt, aber macht es ohne uns“. Daneben optierte nur Dänemark in gleicher Weise. Selbiges gilt für die europäische Grundrechtecharta, die 2009 für alle außer das Vereinigte Königreich und Polen rechtsverbindlich wurde.

Ob dieser vielen Ausnahmeregelungen erscheint es paradox, dass GB überhaupt einziehen wollte. Mehr noch angesichts der Tatsache, dass es kein geringerer als Winston Churchill war, der in einer seiner berühmtesten Reden bereits 1946 die Idee vorbrachte, dass sich alle europäischen Staaten vereinigen sollten. Im gleichen Atemzug verwies er jedoch darauf, dass man selbst natürlich nicht Europa angehöre.

Klare Entscheidung erwünscht

Nach Jahrzehnten des Zickzackkurses seiner Vorgänger hat sich David Cameron schließlich 2013 dazu durchgerungen, im Falle seiner Wiederwahl eine endgültige Entscheidung im Sinne eines „In-Out-Referendums“ herbeizuführen. Da der britische Premier am 7. Mai tatsächlich 24% der Wahlberechtigten, 37% der Wählerstimmen und gemäß dem Mehrheitswahlsystem knapp 51% der Mandate für sich und seine konservativen Tories gewinnen konnte, wird spätestens 2017 Klarheit darüber herrschen, ob das drittgrößte Zimmer in der EU-WG freigeräumt wird oder nicht. Vieles hängt dabei davon ab, wie Cameron kurz vor dem Referendum kampagnisiert und das steht im engen Zusammenhang damit, inwieweit die anderen bereit sind, auf ihren ohnehin schon unbeliebten Mitbewohner zuzugehen. Die Grundregeln seien gemäß dem ständigen Vorsitzenden der Hausversammlung nicht verhandelbar und auch eine grundlegende Vertragsänderung ist in so kurzer Zeit kaum möglich.

Am Ende bleibt die Frage, ob eine Beziehung, die schon so lange dermaßen zerrüttet ist, nicht einfach in gegenseitigem Einvernehmen aufgekündigt werden sollte – immerhin scheinen beide Seiten getrennt glücklicher zu sein. Doch so einfach ist es leider nicht. Auch wenn die Hausordnung seit 2009 jedem Bewohner das explizite Recht einräumt, die WG eigenmächtig zu verlassen, würden die Austrittsverhandlungen wohl viele Jahre in Anspruch nehmen. Die 27 anderen jedenfalls würden einen weithin enorm einflussreichen Partner verlieren, GB selbst wiederrum könnte die großen wirtschaftlichen Vorteile des WG-Lebens plötzlich nicht mehr nützen. Letztendlich wäre der Auszug aber auch der größte integrative Rückschritt seit der Errichtung der Gemeinschaft in den 1950ern und könnte ferner als Präzedenzfall dazu führen, dass zunehmender Individualismus und Egoismus das einst so stabile Zusammenleben gefährden. Eines ist deshalb ganz klar: Die Verhandlungen der nächsten zwei Jahre werden wegweisend für die Zukunft Europas!