Syrien: Drama in fünf Akten von Michael Wolf

Fragt man nach den passendsten Schlagwörtern zur Beschreibung der aktuellen innen- und außenpolitischen Geschehnisse, stünden die Termini „Flucht“, „Asyl“ und „Massenmigration“ im Ranking wohl ganz klar vorne. Politik und Medien jonglieren tagtäglich mit diesen Begriffen und suggerieren der Öffentlichkeit sehr eindringlich, welche Aspekte der Flüchtlingskrise gerade „bedeutsam“ und damit vorrangig zu thematisieren seien. Dabei wird jedoch immer nur ein kleiner Ausschnitt der Realität präsentiert, der dann isoliert vom Kontext den gesellschaftlichen Diskurs konstruiert. Der Versuch, den Ausgangspunkt, Verlauf und Status quo anhand von fünf einzelnen Phasen der medialen Berichterstattung nachzuzeichnen:

1. Akt: Der Ausbruch des Bürgerkriegs
Ab 2011: Als Präsident Baschar al-Assad im April 2011 die reguläre Armee gegen Demonstranten einzusetzen begann und die ersten Zivilisten ums Leben kamen, dachte die westliche Welt vorerst nur an ein weiteres kleines Kapitel in einer ganzen Reihe von Revolutionen, die zusammengefasst als Arabischer Frühling bezeichnet wurden und heute ein hohes Maß an Ernüchterung zurücklassen. Weil weder Regierungs- noch Oppositionstruppen jemals einen wirklich entscheidenden Schlag landen konnten, die internationalen Bemühungen um eine diplomatische Lösung immer wieder scheiterten und die Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staates die Lage noch weiter destabilisierte, sahen sich seit Beginn der Kampfhandlungen nach Schätzungen der UN und verschiedener Hilfsorganisationen rund 12 Millionen Menschen (ca. 55% der syrischen Gesamtbevölkerung) gezwungen, ihre Heimat zu verlassen – mehr als 4 Millionen in Richtung Ausland. „We don’t have a strategy yet“, tönten noch im August 2014 sehr leise Töne aus dem Mund eines US-Präsidenten, der zu sehr bemüht erschien, die Fehler seines Vorgängers nicht mit zu offensiven Entschlüssen zu wiederholen. Weil erwartungsgemäß auch sonst niemand mit Nachdruck eine Entscheidung herbeiführen wollte, ist und bleibt die Situation in Syrien mehr als vier Jahre nach den ersten Bomben weiter verheerend.

2. Akt: Massengrab Mittelmeer
Ab 2014: Nachdem sich die internationale Staatengemeinschaft nicht auf eine militärische Intervention einigen konnte, das Chaos weitgehend sich selbst überlassen wurde und niemand mehr an baldigen Frieden glaubte, nahmen viele Syrer ihr Schicksal selbst in die Hand. Allein die beiden Anrainerstaaten Türkei (1.59 Millionen) und Libanon (1.15 Millionen) beherbergen seither mehr als die Hälfte all jener Kriegsflüchtlinge – zigtausende wagten jedoch die gefährliche Flucht über das Mittelmeer. Der traurige Höhepunkt ereignete sich dann im Frühling 2015, als binnen nur eines Monats 1.308 Menschenleben auf hoher See ein Ende fanden. Tausende konnten zwar gerettet werden, eine gezielte Aktion gegen die Schlepperkriminalität, die für die meisten der ertrunkenen Flüchtlinge verantwortlich zeichnet, wurde jedoch erst im Juni 2015 von den EU-Außenministern auf eine erste schmale Schiene gebracht. Mit der Zuspitzung der Lage am Mittelmeer veränderten sich auch die heimischen Diskurse: Von Rechtsaußen kamen immer stärkere Forderungen nach totaler Abschottung, die zivilisierte Mehrheit der Bevölkerung mahnte indes vehement die humanitäre Verantwortung Europas ein.

3. Akt: Neue Hoffnung zu Lande
Ab 2015: Während 2014 noch mehr als drei Viertel der Festlandankünfte in Italien registriert wurden, entwickelte sich seither ausgerechnet das krisengebeutelte Griechenland zum Hotspot Nummer eins. Innerhalb von nur zwei Jahren explodierten die Flüchtlingszahlen auf hellenischem Territorium von 3.600 (2012) auf 43.500 (2014) – Tendenz weiter steigend. Mit dem Zustrom verlagerte sich auch der mediale Fokus vom Mittelmeer auf den westlichen Balkan, der zur Fluchtroute Nummer eins avancierte. Bleiben wollte in den Erstaufnahmeländern am Balkan aber praktisch niemand, versprachen sich doch die meisten eine aussichtsreiche Zukunft im „gelobten Land“ Deutschland.

4. Akt: Zwischen Chaos und Willkommen
Ab Sommer 2015: Was dann kam schien logisch: Überfüllte Aufnahmelager, Diskussionen über Verteilungsschlüssel, Angst in der Bevölkerung. So wenig überraschend die Tatsache war, dass mehr Flüchtlinge auch mehr Betten bedeuten, so schlecht schien man gerade hierzulande darauf vorbereitet. Die ersten kleinen Wellen einer sich anbahnenden Flut an Menschen verursachten ein Chaos, das erst mit erheblicher Verspätung und meist völlig unzureichend zu schlichten versucht wurde. Die Folge: Rechtsextreme Kreise sahen sich in ihrer Annahme bestätigt, dass ein paar hundert Migranten mehr bereits ausreichten, eingespielte gesellschaftliche Routinen aus dem Takt zu bringen. Aufrufe zu Gewalt, Hetze im Netz sowie immer selbstbewusster vorgetragene Polemik griffen ungehindert um sich, ehe die Zivilgesellschaft mit einer Welle der Hilfsbereitschaft starke Zeichen der Nächstenliebe setzte.

5. Akt: Status quo
Ab Herbst 2015: Gerade als so mancher glaubte, dass sich die Lage langsam aber sicher stabilisiert, kam der Paukenschlag. Am 25. August brachen die Dämme und mehr als 2.000 Flüchtlinge überquerten binnen nur eines Tages die EU-Außengrenze nach Ungarn. Es sollte nur eine erste Vorhut sein. Die Geschehnisse der folgenden Wochen waren all jenen Mitteleuropäern, die erst nach dem Mauerfall geboren wurden, vollkommen fremd. Grenzen wurden in vielen EU-Ländern zuerst unkontrolliert geöffnet, dann teilweise oder vollständig abgeriegelt. Zugverbindungen wurden gekappt und Soldaten in Stellung gebracht. Die Politik reagierte dabei ohnmächtig und in fast allen zentralen Fragen gespalten.

Kein Happy End in Sicht
Dass in Syrien bald Frieden herrschen wird, scheint undenkbar – dass sich die EU auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik einigen wird – zumindest sehr fragwürdig. Der Strom, bestehend aus hunderttausenden Einzelschicksalen, der immer wieder Wege finden wird, ja finden muss, Zäune und Barrikaden zu durchbrechen, wird noch lange nicht zum Erliegen kommen. Wenn nicht bald ein großes Umdenken in jenen europäischen Ländern stattfindet, die noch nicht im ganz großen Stile von der dramatischen humanitären Katastrophe betroffen sind, wird der sechste Akt den vollkommenen Kollaps geordneter Strukturen – und der siebte dann das Ende der EU als Solidargemeinschaft beschreiben.

2 Kommentare

Ich würde nicht, wie mein Kollege Michael Wolf, die Flüchtlingssituation als eine Gefahr für die Europäische Gemeinschaft bzw. Idee bezeichnen. Denn erstens ist die Europäische Union, wie die Geschichte zeigt, aus jeder Krise gestärkt herausgekommen. Zweitens braucht Europa dringend diese Menschen, um die demographische Situation in den europäischen Wohlfahrtsstaaten zu verbessern.
Viel wichtiger ist es das Problem auf zwei Ebenen zu sehen. Einerseits geht es um ein „multi-level“-Problem. Die Mitgliedstaaten verfahren, wie sie wollen. Es fehlt also einerseits eine einheitliche Strategie, die schnell möglichst ausgearbeitet werden muss, und an die sich alle halten müssen.
Andererseits geht es um das Verbessern der Bürgerkriegssituation selbst. Es hilft nicht Flüchtlinge aufzunehmen, wenn man das Problem auch nicht an den Wurzeln packt. Auch wenn Asyl ein Menschenrecht ist, können Staaten nur eine begrenzte Menge an Menschen aufnehmen, die man auch zur gleichen Zeit in eine neue westliche Gesellschaft integrieren kann. Das ist auch ein sprengender Punkt, was in den Diskussionen oft vergessen wird. Was basiert eigentlich nach der Flüchtlingskrise? Alles schön und gut, wenn man viele Flüchtlinge aufnimmt. Aber über die Strategien der Integration wird zu wenig öffentlich debattiert. Vielleicht könnte ein Autor von Nihil-Addendum beim nächsten Blogartikel über das „post-refugees-crisis“ schreiben?

Vielen Dank Markus Mayrhofer für deine überaus konstruktiven Anmerkungen! Ich gebe dir in weiten Teilen recht, wenngleich man jedoch auch an die Phasen der europäischen Integrationsgeschichte nicht unter den Tisch kehren sollte, in denen es keineswegs sicher schien, dass die EU das richtige Instrument zur Bewältigung der Probleme darstellt (z.B. die Zeiten der Eurosklerose (1973-1984), die vielen negativen Referenden zu Vertragsnovellen (Dänemark beim Vertrag von Maastricht, Niederlande und Frankreich beim Verfassungsvertrag sowie Irland beim Lissabonner-Vertrag), die Ära Charles de Gaulles, die Eurokrise etc. Die EU schaffte es bisher, sich immer wieder neu zu erfinden bzw. sich an gesellschaftliche Entwicklungen anzupassen. Dennoch sind auch Tendenzen der Desintegration (siehe z.B. auch Eppler, Anne (2013) Zur Konzeptionalisierung europäischer Desintegration : Zug- und Gegenkräfte im europäischen Integrationsprozess) spürbar, sprich die Rückbesinnung auf Nationalismen sowie Sezessionsbestrebungen (Schottland, Katalonien sowie das geplante Referendum von GB 2017).

Ich teile zwar prinzipiell (aber nur vorsichtig) deinen Optimismus. Immerhin bin ich mir jedoch auch des möglichen Szenarios bewusst, dass die EU langfristig gesehen eben auch zerbrechen könnte, wenn sie keine gemeinsamen, flexiblen und weitreichenden Lösungen findet.

Deine Strategie, Probleme an der Wurzel zu packen, finde ich natürlich sinnvoll und edel, jedoch ist diese hier mit Blick auf Syrien einerseits mittlerweile zu spät und andererseits ist die EU als „Zivilmacht“ absolut ungeeignet und nicht im Stande, militärisch zu intervenieren. Gerade in Syrien stellt sich die immanente Frage, wem man überhaupt helfen kann und helfen soll, da Assad und der IS zwar eindeutig zu den „Bösen“ zu rechnen sind, es jedoch auch keine Gruppierung gibt, welche man so ohne Weiteres als die „Guten“ bezeichnen könnte.

Das Thema Integration der Flüchtlinge wird uns sicherlich die nächsten Jahre und Jahrzehnte begleiten und die Diskurse darüber stetig an der Obefläche schwelen, wenngleich bereits jetzt die Zeit ist, sich Konzepte für diese schwierigen Prozesse zu überlegen. Schließlich können im besten Falle – bei positiven und wirskamen politischen Strategien – alle Seiten von einem neuen kulturellen Pluralismus profitieren…

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