Zum zweiten Mal fand diesen Juni die Wiener Strategiekonferenz statt, organisiert von der Österreichischen Militärischen Zeitschrift (ÖMZ) und der European Military Press Association (EMPA) in Kooperation mit dem Zentrum für menschenorientierte Führung und Wehrpolitik (ZMFW). Der Erfolg der letztjährigen Konferenz veranlasste den Organisator Brigadier MMag. Dr. Wolfgang Peischel, Chefredakteur der ÖMZ, dazu, wieder hochkarätige MilitärexpertInnen aus Praxis und Wissenschaft zum Austausch an die Landesverteidigungsakademie in der Wiener Stiftskaserne zu laden.
Dieser Konferenz vorgestaffelt war der 36. Kulturwissenschaftliche Dialog zum Thema „Kognitionswissenschaften und Strategisches Denken”. In dessen Rahmen wurde u.a. kritisch reflektiert, wie Erfahrungen und Kategoriensysteme, sprachliche Tabus oder falsche Grundannahmen unsere Wahrnehmung beeinflussen, und wie man Kognitionswissenschaft und Phänomenologie nutzen kann, um dem entgegenzusteuern.
Eine Vielfalt an Disziplinen und Vortragenden
Im Zentrum der anschließenden Strategiekonferenz stand die Frage, ob Strategie lehrbar ist und – wenn ja – wie ein solcher Lehrgegenstand inhaltlich beschaffen sein soll. Im Vorfeld der Konferenz wurde zu diesem Zwecke eine Mindmap kreiert, welche die fachlichen Zusammenhänge zwischen dem Kernfach Strategie und anderen Wissenschaftsdisziplinen skizziert. Diese Mindmap zeigt ein äußerst interdisziplinäres Bild, welches auch die Struktur der Konferenz vorgab: Zahlreiche Panels untersuchten die Schnittstellen zwischen Strategie und den Feldern der Internationalen Politik, Geowissenschaften, Medienwissenschaften, Medizin, Biologie, Geschichtswissenschaften, technischen Wissenschaften, Religions- und Kulturwissenschaften sowie der Philosophie. Die Bereiche Militärwissenschaft, Militärphilosophie und Strategiegeschichte wurden durch zusätzliche Vorträge abgedeckt. Außerdem wurden Länderstudien (Schweden, Finnland, USA, Russland) vorgetragen, und wie auch letztes Jahr waren die Ideen des preußischen Generals Carl von Clausewitz ein ständiger Begleiter.
Die Vortragenden, deren Anzahl sich im Vergleich zum letzten Jahr quasi verdoppelt hat, waren in erster Linie Militärs mit universitärer Ausbildung, die Erfahrungen aus ihrer Karriere anhand theoretischer Konzepte aufarbeiteten. Auch die Anzahl ziviler ForscherInnen, ebenso wie jene der weiblichen Vortragenden stieg im Vergleich zur letztjährigen Konferenz.
Zu den spannendsten Erkenntnissen der Konferenz zählten wohl die zahlreichen Zusammenhänge zwischen dem Bereich der Strategie und den vertretenen Fachbereichen. Fühlte sich der ein oder die andere Vortragende zuvor als Exote/in, wurde ihnen durch diese Konferenz bald bewusst, wie viele Erkenntnisse ihres Fachbereichs sie mit anderen Fachbereichen und besonders dem der Strategie teilen. Im Folgenden werden ein paar Auszüge dargestellt.
Im Panel „Strategie und Technische Wissenschaften“ argumentierte Univ.-Prof. Dr. Josef Eberhardsteiner, Bauingenieur und Professor an der Technischen Universität Wien, am Beispiel Holz, dass man, um Verhalten verstehen zu können, es in seine Einzelteile herunterbrechen muss – ein Gedanke, der in Form einer Situationsanalyse die Basis jedes Strategieformungsprozesses beschreibt. OR Mag. Dr. Peter Sequard-Base, Physiker und Referatsleiter im Verteidigungsministerium, argumentierte, dass ein Blick auf die Naturwissenschaften für den Strategen deshalb lohnend ist, weil ihre Paradigmen langfristig in der Mitte der Gesellschaft landen. So führte beispielsweise der in der Evolutionstheorie und Quantenmechanik deutlich gewordene Umschwung vom Determinismus zur Hervorhebung der Rolle des Zufalls in den Naturwissenschaften etwas später auch in der Gesellschaft zu einem Umschwung: Ideologien mit einem deterministischen Gesellschaftsverständnis wie der Nationalsozialismus oder der Kommunismus waren von Ideen des 19. Jahrhunderts geprägt und wurden im 20. Jahrhundert von einem offeneren Denken abgelöst, welches Freiheit und Emotionalität in den Mittelpunkt stellte – sichtbar beispielsweise in der 1968er-Bewegung. Durch diesen gesellschaftlichen Umschwung weg vom deterministischen Denken nahm allerdings auch das Gefühl der Unsicherheit zu, womit Sequard-Base das Aufkommen von Umweltbewegungen oder dem Club of Rome erklärt.
Ein weiteres scheinbar fachfremdes Panel war jenes zum Thema „Strategie und Medizin/Biologie/Biotechnologie/Biogenetik“. Die Zusammenhänge zwischen den zwei Bereichen sind jedoch zahlreich und inkludieren Themen von der medizinischen Versorgung im Einsatz und der Krankheitsvorsorge für die eigene Bevölkerung, um Bevölkerungswachstum und Wehrfähigkeit aufrecht zu erhalten, über biologische Waffen hin zu Methoden des Human Enhancement. Dr. Fillippa Lentzos vom King’s College London skizzierte das bisher und vielleicht in naher Zukunft mögliche Spektrum biologischer Waffen; Dr. Annika Vergin vom Planungsamt der Bundewehr berichtete über Methoden und militärischen Nutzen von Human Enhancement (Leistungssteigerung über das Natürliche hinaus); Prof. Dr. Harald Harbich, Oberstarzt beim Bundesheer, sprach über den Beitrag der österreichische Militärmedizin zur Gesamtstrategie des Staates; und der Kardiologe Prof. Dr. med. Yskert von Kodolitsch stellte Überlegungen darüber an, mit welchen politischen Mitteln die Bundesregierung auf Ärzte einwirken kann, damit diese ihren Pflichten nachgehen (anstatt sich bspw. der Beeinflussung durch die Wirtschaft oder Pharmaindustrie hinzugeben). Die interessante Feststellung auf der dieser Vortrag gründete: Während Bismarck die Krankenversicherung und ärztliche Versorgung für die breite Bevölkerung im Deutschen Reich ursprünglich einführte, um Wehrpflicht und wirtschaftliche Produktion sicherzustellen – Medizin also dem staatlichen Interesse diente –, sind Finanzierung und Verantwortlichkeiten im Gesundheitssystem inzwischen zunehmend ökonomisiert und privatisiert.
Auch das Panel zum Thema Religion, Werte und Interkulturalität bewies, dass diese Themen für den Bereich der Strategie größere Bedeutung haben als vielleicht anzunehmen wäre. Das Fazit des Panels ist, dass Diversität in all ihren Formen den Rahmen für die Strategiefähigkeit eines Staates vorgibt: Wird sie nicht angemessen geregelt, kann sie die Demokratiefähigkeit oder Wehrbereitschaft und somit das Überleben des Staates gefährden. Im Heer selbst kann man sich Diversität zunutze machen: Unterschiedliche Herkunft, Positionen und Wissensschätze vergrößern das Erfahrungs- und Wahrnehmungsspektrum und ermöglichen somit eine bessere Beurteilung und Analysefähigkeit von Spannungen und Konflikten, besonders im Ausland.
Andere Panels waren durchaus näher am Kernfach Strategie, konnten aber dennoch durch ihre innere Vielfalt bestechen. Im Rahmen des Panels „Strategie und internationale Organisationen/Internationale Politik“ referierte Dr. Sarah Kirchberger von der Universität Kiel über Chinas Geopolitik, GenMjr. Wolfgang Wosolsobe, ehemaliger Chef des EU-Militärstabs, über die Rolle internationaler Organisationen im strategischen Denken, Obst d.G. Mag. Franz Löschnigg über die Militärdiplomatie als gewaltloses Werkzeug der Strategie und Tim Rohardt M.A., Politikwissenschaftler an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, wandte theoretische Konzepte der Kopenhagener Schule auf Sprechakte internationaler Organisationen an. Am Panel „Strategie und Medien/Strategische Kommunikation“ wurde die Rolle der Medien vom Kommunikationsmittel bis zur Waffe thematisiert. Obst a. D. Friedrich Jeschonnek wies darauf hin, dass die Bedeutung der Medien als Waffe besonders zugenommen hat, seitdem der Einsatz militärischer Mittel geächtet wird. Mag. Mikko Harjulehto, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit im finnischen Generalstab, ergänzte, dass selbst wenn man auf Social-Media-Plattformen (Gegen-)Kampagnen führen wollte, sich die Frage stellt, ob wir die Dynamiken dieser Kanäle überhaupt genau genug verstanden haben. Thematisiert wurde auch die Medienstrategie des Heeres, zu der Jeschonnek anmerkte, dass diese besonders dadurch erschwert wird, dass eine Militärstrategie und besonders ihre Durchführung notwendigerweise der Geheimhaltung unterliegen. Die Arbeitsgruppe „Strategische Kultur“ diskutierte nach kurzen inhaltlichen Inputs die Frage, ob Österreich eine strategische Kultur besäße. Der kleinere Rahmen dieser Gruppe ermöglichte eine breite Diskussion zwischen allen Teilnehmenden und somit einen Einblick in verschiedene Perspektiven. Im Panel „Strategie im Österreichischen Bundesheer“ wurde anhand des Strategischen Führungslehrgangs und den Kursen der Landesverteidigungsakademie beispielhaft gezeigt, wie man Strategie lehren kann. Weitere Panels beschäftigten sich mit den Themen Geopolitik, Strategiegeschichte, maritime Aspekte der Strategie und Philosophie.
Paneldiskussionen wechselten sich ab mit Vorträgen, die den ExpertInnen die Möglichkeit gaben, tiefer in die Materie einzudringen. GenMjr a.D. Christian Millotat und Manuela R. Krueger, u.a. Leiter und Co-Leiterin des Forum Mainz der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, referierten in diesem Rahmen über Voraussetzungen und Charakteristika einer Gesamtstrategie mehrerer Staaten, wie sie bei multilateralen Einsätzen notwendig ist, und zogen dabei Lehren aus Erfahrungen vergangener Einsätze. DDr. Christian Stadler, Rechtsphilosoph an der Uni Wien, arbeitete sich mithilfe von Clausewitz, Kant, Platon, Hegel und Heraklit an die strategische Bedeutung von Energie heran, einer Ressource, die im Krieg sowohl strategisches Ziel, taktisches Mittel wie auch politischer Zweck sein kann und somit ein unerlässlicher Faktor in der Konfliktanalyse (Polemologie) ist. Bgdr MMag. Dr. Wolfgang Peischel feilte in seinem Vortrag am Konzept des strategischen Leaderships, dessen Aufgabe es sei, in einer Gesellschaft, in der Individualismus und Wohlstand zunehmen und somit Bedrohungsempfinden und Wehrbereitschaft abnehmen, zu kommunizieren, dass Freiheit und Sicherheit nicht selbstverständlich sind, sondern weiterhin erkämpft werden müssen. Eines der Konferenzhighlights war wohl der Vortrag des britischen Militärhistorikers Hew Strachan, der sich mit der Bedeutung von Geschichte und Geschichtswissenschaft im Bereich Strategischer Studien befasste. Strachan zufolge wurde diese Bedeutung in den 1950er- und 60er-Jahren zunehmend durch politikwissenschaftliche Ansätze verdrängt; historische Beispiele werden von AkademikerInnen heutzutage nur noch bemüht, um einen Anschein historischer Kontinuität zu erwecken, oder um als oberflächliche Fallstudien einen scheinbaren Beweis für Theorien zu liefern. Der wahre Nutzen der Geschichtswissenschaft für StrategInnen liege aber in ihrer Fähigkeit, Wandel und Veränderungen zu erklären und kreatives Denken zu fördern.
Ein Kernfach Strategie?
Wie aber steht es nach all diesen Inputs um die Beantwortung der Leitfrage? Kann man Strategie lehren? Die Vortragenden waren sich uneinig, wobei eine Mehrheit die Frage bejaht – schließlich ist für viele genau das ja ihre tagtägliche Aufgabe. Dan Shueftan, Chef des National Security Studies Center an der Universität von Haifa, gehört zu jenen, die davon nicht überzeugt sind: Seiner Meinung nach hat man entweder die Fähigkeit zu strategischem Denken oder eben nicht. Dies ist aber nicht weiter problematisch, da es zahlreiche andere Fähigkeiten gibt, die im Militär oder in der Politik gebraucht werden. Auch Karsten Schneider, Flottenadmiral und stellvertretender Leiter der Führungsakademie der Bundeswehr, gibt zu bedenken, dass es im Endeffekt nur eine beschränkte Anzahl an StrategInnen braucht, und diese konnten zusätzlich zu ihrer strategischen Grundausbildung durch ihre langjährige Laufbahn viel Erfahrung sammeln. Horst Pleiner, ehemaliger Generaltruppeninspektor im Bundesheer, meint deshalb, man solle in der Ausbildung eben jene Leute herausfiltern, die besonders zu strategischem Denken fähig sind.
Zur Frage, wie denn ein Unterricht in Strategischem Denken aussehen sollte, gibt es zahlreiche Vorschläge: GenLt retd. Robert E. Schmidle, ehemals Deputy Commandant for Aviation, gibt – indirekt der von Prof. Eberhardsteiner vorgegebenen Logik der Aufteilung in Einzelschritte folgend – drei grobe Themenkörbe vor: Analysefähigkeit, Synthesefähigkeit, die im Besonderen Kreativität beinhaltet, und Charakterstärke, womit besonders Empathie, moralischer Kompass und Tugendhaftigkeit gemeint sind. Horst Pleiner wird konkreter: Unterrichten muss man zumindest Führungsqualitäten, soziale Kompetenz, Management, strategische Planung und deren Methoden (beispielsweise Risikoanalyse und Szenariotechnik) sowie Strategiegeschichte. Ihm zufolge bräuchte es dazu entweder eine Gesamttheorie der Strategie oder eine Vertiefung der Klassiker. Dr. Tihamér Margitay, Professor an der Technischen und Wirtschaftlichen Universität Budapest, vertrat am Panel „Strategie und Philosophie“ eine andere Herangehensweise: Basierend auf dem theoretischen Konzept des „impliziten Wissens“ – jenes tief verinnerlichte und daher nicht reflektierte Wissen, das uns Routinehandlungen erlaubt – forderte er, man soll weder unterrichten, was Theorien sagen, noch was ExpertInnen sagen; stattdessen soll man studieren, wie sich ExpertInnen in den entsprechenden Situationen verhalten – ihre Routinen, Denkmodelle und Wahrnehmung.
Offen bleibt vorübergehend, wer am besten geeignet ist, Strategie unter Berücksichtigung dieser Vorstellungen zu lehren. Müssen Lehrende Allrounder sein, die von Medizin bis Philosophie jedes Gebiet beherrschen? Muss Lehre durch verschiedene ExpertInnen gemeinsam gestaltet werden? Wie packt man so viele Inhalte in ein Fach, ohne es zu überfrachten? Die diesjährige Wiener Strategiekonferenz kann diesbezüglich als Brainstorming gesehen werden, bei der Zusammenhänge ausgelotet und den Vortragenden keine gedanklichen Grenzen gesetzt wurden.
In diesem Sinne war die Multidisziplinarität zwar bereichernd, gleichzeitig aber eine enorme Herausforderung für ZuhörerInnen. Die Panelgestaltung, bei der Panelleiter selbst gerne Referate hielten, anstatt sich auf die Rolle der Moderation zu beschränken, und die Beiträge der PanelistInnen eher eigenständige Kurzreferate als sich aufeinander beziehende Statements waren, grenzte aufgrund ihrer Vielfalt und Dauer fast schon an eine Überforderung. Hätte man die Panels verstärkt entlang gemeinsam diskutierter Fragen aufgezogen, hätte dies zwar etwas Vielfalt geraubt, dafür aber eine gemeinsame Diskussion erlaubt. Diese Kritik soll aber die Erkenntnisgewinne der Konferenz nicht schmälern, sondern lediglich einen Hinweis auf Verbesserungspotentiale geben. Die Wiener Strategiekonferenz ist nach wie vor in ihrer Ausrichtung und Größe eine Besonderheit im deutschsprachigen Raum und wird auch 2018 wieder einen spannenden Rahmen für Austausch bieten.
Links:
Bericht der letztjährigen Konferenz http://www.nihiladdendum.com/2016/08/08/strategie-neu-denken-ein-konferenzbericht/
Webseite der ÖMZ https://www.oemz-online.at/display/ZLIintranet/STARTSEITE
Programm der Konferenz https://www.oemz-online.at/display/ZLIintranet/Programm+2.+Wiener+Strategiekonferenz
Youtube-Kanal der ÖMZ https://www.youtube.com/channel/UCLE_PpeQBV3VHANUKFjFYag