Quo vadis EU

„This time it’s different“: Geht es nach den Machern der Informationskampagne, steht bei den achten Wahlen zum Europäischen Parlament mehr als jemals zuvor auf dem Spiel. Und tatsächlich nimmt das einzige demokratisch legitimierte Organ heute eine ganz zentrale Position im institutionellen Gefüge der EU ein. Das war nicht immer so.

Historischer Rückblick

Als sich 1952 erstmals eine „Gemeinsame Versammlung“ zusammenfand, verfügte diese über nicht viel mehr als ein paar Kontrollrechte. Überdies bot sie damals vielfach jenen Persönlichkeiten gut bezahlte Reisegelegenheiten nach Brüssel und Straßburg, die in ihrer Heimat keine politischen Zukunftschancen mehr hatten. „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“ – ein durchaus passender Aphorismus, welcher jedoch mit der Implementierung der Direktwahlen (1979) oder spätestens der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) immer mehr an Gültigkeit verloren hat. Im Rahmen dieser ersten großen Vertragsänderung bekam die Versammlung neben (noch spärlich gesäten) Mitbestimmungsrechten im Gesetzgebungsprozess auch offiziell den Namen „Europäisches Parlament“. In den 20 Jahren danach wurden die Befugnisse des EP dann stetig ausgeweitet, ehe es seit der Umsetzung des Lissabonner Vertrages (2009) in den allermeisten Fällen gleichberechtigt mit dem Ministerrat agiert. Diese kurze historische Rückschau soll betonen, dass die Bedeutung des EP im Laufe der Integrationsgeschichte enorm zugenommen hat. Kaum eine europäische Institution wusste sich in den vergangenen 60 Jahren wandlungsvoller in Szene zu setzen und ihre Position im institutionellen Gefüge stärker zu behaupten.

Wahlbeteiligung

Dass dieses Mehr an Einfluss mit der Wahlbeteiligung negativ korreliert, scheint auf den ersten Blick paradox, korrespondiert aber mit den über die vergangenen Jahrzehnte zu beobachtenden Trends allgemein sinkender elektoraler Partizipation. Inwieweit diese klare Tendenz eine allgemeine politische Unzufriedenheit widerspiegelt und damit zur Erosion des politischen Systems insgesamt beiträgt (Krisenthese), oder – konträr dazu – durchaus funktionierende und daher nur schwach mobilisierende demokratische Strukturen indiziert (Normalisierungsthese), ist und bleibt in der Forschung umstritten. Fakt ist jedenfalls, dass bei den letzten Europawahlen im Jahr 2009 lediglich rund 46% der österreichischen Wahlberechtigten teilnahmen. Wie das Linzer Meinungsforschungsinstitut IMAS kürzlich herausfand, lassen sich die Motive der zeitgenössischen Nicht-WählerInnen eher auf die Faktoren Politikverdrossenheit (24%), Protest (19%) und Enttäuschung (17%), denn auf Desinteresse und Gleichgültigkeit (jeweils 12%) zurückführen. Darüber hinaus – und danach wurde in dieser Studie überraschenderweise nicht gefragt – dürfte auch allseits verbreitete Unwissenheit über die Bedeutung der Wahlen einen entscheidenden Einfluss auf die Beteiligung haben. Dass die EU den meisten Menschen kaum greifbar und außergewöhnlich komplex erscheint, führt dazu, dass der gesellschaftliche Diskurs von einer ganzen Reihe an Mythen und Halbwahrheiten bestimmt wird. Wenn in den verkürzten Darstellungen einiger Medien ein (empirisch nicht haltbarer) „Reglementierungswahn“ angeprangert, und gleichermaßen vernachlässigt wird, dass die EU nicht nur Frieden und Wohlstand, sondern auch den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital sowie mehr Mitsprache in der Welt gebracht hat, reiben sich vor allem rechtsnationale Parteienvertreter die Hände.

Mit Verstand wählen

Überhaupt scheinen sachlich fundierte Argumente nur selten massenwirksam aufgegriffen zu werden. Das Credo vom „Wir gegen Brüssel“ findet dabei zwar nicht nur, aber besonders deutlich in Österreich Anklang. Gleich drei der neun wählbaren Listen bekennen sich klar gegen das Projekt einer Europäischen Union. Neben der FPÖ, die wohl zumindest drittstärkste Kraft werden dürfte, gehen ferner auch die REKOS und das Wahlbündnis „EU-Stop“ am rechten Rand auf Stimmenfang. Ein möglicher Rechtsruck würde zwar ein äußerst schlechtes Licht auf die Alpenrepublik werfen, hätte aber zumindest keine nennenswerten Auswirkungen auf die Zusammensetzung und Funktionsweise des EP. Bei lediglich 18 von 750 Sitzen steht die heimische Delegation international nicht wirklich im Fokus. Viel verheerender würde sich demgegenüber ein starkes Abschneiden des „Front National“ (FR) oder der „Alternative für Deutschland“ auswirken, die in den beiden historischen Kernländern der europäischen Integration sehr wahrscheinlich reüssieren werden. Selbst rechtsextreme und offen rassistische Parteien wie die ungarische „Jobbik“, der belgische „Vlaams Belang“ oder die niederländische „Partij voor de Vrijheid“ dürfen, unter anderem als Folge der Eurokrise, in ihren Ländern mit zweistelligen Ergebnissen und vorderen Plätzen spekulieren. Die britische EU-Austrittspartei UKIP kämpft, dem Tenor einiger Umfragen folgend, auf der Insel gar um Platz eins.

Resümee

Nationale (Regierungs-) Parteien vordergründig „abstrafen“ zu wollen und die eigene Wahl- oder Nichtwahlentscheidung dabei ausschließlich emotional zu begründen, würde nicht nur die Handlungsfähigkeit einer mittlerweile enorm einflussreichen demokratischen Institution lähmen, sondern sich gerade in turbulenten Zeiten wie diesen weiter destabilisierend auswirken. „This time it’s different:“, so die eingangs erwähnte Headline der europaweiten Infokampagne. Der daran anschließende Appell kann und soll dabei durchaus wörtlich verstanden werden: „Act, React, Impact“!