Crew gefunden, Kapitän gesucht!

Europa hat abgestimmt – entschieden ist deshalb aber noch längst nicht alles. Die bedeutendsten Ergebnisse und spannendsten Hintergründe zur Wahl des Jahres.

Stagnierende Beteiligung

Zwischen 22. Und 25. Mai hatten insgesamt rund 380 Millionen UnionsbürgerInnen die Chance, ihre Vertretung für die größte multinationale parlamentarische Volksversammlung der Welt zu bestimmen. 43% folgten dem Aufruf, 57% hingegen sahen keinen Anlass, dem wohl erfolgreichsten Friedens- und Wohlstandsprojekt der vergangenen 60 Jahre ihre explizite Zustimmung zu geben. Während in den beiden Gründerländern Belgien und Luxemburg bemerkenswerte neun von zehn Wahlberechtigten ihren politischen Ansichten Ausdruck verliehen (Anm. Wahlpflicht), schritt in der Slowakei nicht einmal jeder Siebte (13%) zur Urne. Die gestiegene Bedeutung des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsprozess und vor allem bei der Investitur des Kommissionspräsidenten trug zwar sicherlich zur vorläufigen Stabilisierung der Partizipationswerte bei – diese ist erstmals minimal höher als bei den Wahlen zuvor – damit ließen sich aber ganz offensichtlich keine neuen Wählersegmente mobilisieren.

Rechtsruck mit Ansage

Mehr noch als vor mangelndem Interesse fürchteten sich alle pro-europäischen Kräfte vor einem schon im Vorfeld prophezeiten Rechtsruck. Als bereits am ersten Wahltag bekannt wurde, dass die rassistischen Parolen des niederländischen PVV-Spitzenkandidaten Geert Wilders entgegen den Erwartungen doch „nur“ Rang drei einbrachten, wollte man schon fast wieder an das Gute im Menschen glauben. Mit dem überragenden Erfolg der rechtsextremen Partei „Front National“, die in Frankreich Platz eins und 24 (!) Sitze in Straßburg bzw. Brüssel ergatterte, wurde zwei Tage später eben dieser aufkeimende Optimismus wieder in seinen Grundfesten erschüttert.

Dank eines überzeugenden ÖVP-„Alleingängers“ Othmar Karas und einer SPÖ, die mit Martin Schulz zumindest auf einen erfahrenen europäischen Spitzenkandidaten verweisen durfte, blieb den ÖsterreicherInnen eine ähnliche Katastrophe erspart. Weil die FPÖ jedoch trotz „Negerkonglomerat“-Sagern ihre Mandatszahl verdoppeln konnte, hält sich die Euphorie über das heimische Ergebnis dennoch in Grenzen.

Was fiel sonst noch auf?

Die „grüne-Evolution“ (plus vier Prozentpunkte) ist weiter im Gange – die „pinke Revolution“ blieb hingegen vorerst aus. Dass das politische Alltagsgeschäft nicht nur durch rosa Brillen gesehen werden kann, sondern in erster Linie ein knallharter Knochenjob ist, bekam vor allem NEOS-Spitzenkandidatin Angelika Mlinar vielfach zu spüren. „Scheiße, das ist echt schwierig“, rutschte ihr schließlich im Wahlkampffinale live auf ORF heraus. Wegen oder besser trotz der äußerst mutigen Strategie („wir lieben Europa“) ist den Pinken mit 7.6% Zustimmung immerhin ein Achtungserfolg gelungen.

Bei unserem „nördlichen Lieblingsnachbarn“ hatten SPD und AfD am meisten zu lachen. Witzig ist aber auch, dass die Partei mit dem Namen „Die Partei“ neben einer ganzen Reihe anderer Kleinstlisten einen Sitz für die folgende Legislaturperiode besetzen konnte. Spaß-Forderungen wie die Einführung einer „Faulenquote“ oder „der Bau einer Mauer um die Schweiz herum“ werden in den nächsten fünf Jahren auf höchster Stelle und anstatt anderer Anliegen Gehör finden. Möglich wurde dies, weil das Deutsche Bundesverfassungsgericht Anfang des Jahres die Drei-Prozent-Hürde gekippt hatte. Dass die neonazistische NPD dadurch ebenfalls mit einem Abgeordneten vertreten sein wird, lässt einem dann aber doch wieder das Lachen im Halse stecken bleiben.

EU sucht „Chef“

Mit der Wahl des EP wurde erstmals auch die Entscheidung über den Kommissionspräsidenten verknüpft. Hintergrund: Der seit 2009 gültige Vertrag von Lissabon enthält die Klausel, dass der Europäische Rat bei seiner Nominierung das entsprechende Wahlergebnis zu berücksichtigen habe. Entgegen vielfach verkürzter medialer Darstellung sind die Staats- und Regierungschefs aber keineswegs dazu verpflichtet, den Spitzenkandidaten der stärksten Parlamentsfraktion zu nominieren. Weil das EP dem Vorschlag des Europäischen Rates aber letztendlich mit absoluter Mehrheit zustimmen muss, werden sich die Verhandlungen über diese wichtigste Personalie möglicherweise äußerst kompliziert, langwierig und intransparent gestalten.

Ein Blick nach vorne

Die Wahlen sind geschlagen und die Sitze verteilt, soviel zu den Fakten! Ob am Ende aber der Konservative Jean-Claude Juncker, der Sozialist Martin Schulz oder – theoretisch denkbar – doch ein dritter unbekannter Name zum mächtigsten Fädenzieher der Union aufsteigen wird, könnte sogar erst im Herbst feststehen. Sollte am Ende keiner der beiden genannten bestimmt werden, käme dies jedenfalls einer demokratiepolitischen Bankrotterklärung – mit Konsequenzen nicht nur für die nächste Europawahl – gleich.